Entwicklung des Wandermusikantentums

Das Wandermusikantentum ist ein umfangreiches Kapitel der Pfälzer Musik- und Sozialgeschichte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Ende mit der Gleichschaltung des Dritten Reiches einherging. Es handelt sich dabei um eine zirkuläre Arbeitsmigration, die in den 1830er Jahren entstanden ist. Als Folge der wirtschaftlichen Not durch die Kriegsauswirkungen in der Pfalz, der Überbevölkerung, Missernten und der Realerbteilung sind die Männer zum Erwerb des Unterhalts auf Wanderschaft gegangen, um der Familie zu Hause den nötigen Unterhalt zu sichern.

Nachdem einige Musikanten sehr erfolgreich zurückgekehrt sind, erfuhr das Wandermusikantentum in den 1880er Jahren eine Blütezeit. Die Wandermusikanten bereisten nicht nur Europa, sondern auch Amerika, Skandinavien, Russland, Australien und Afrika. Diese weite Reisetätigkeit ist für zahlreiche Wandermusikanten belegt.

Mit den Einnahmen aus dem Wandergewerbe war den Musikanten ein stattliches Auskommen in der Westpfalz möglich. Bis heute zeugt die architektonische Eigenart der Musikantenhäuser, mit dem typischen Musikantengiebel oder ikonografischen Elementen mit Musikbezug, vom Erfolg der Musikanten. Die in alle Welt reisenden Westpfälzer Musikanten waren „Auswanderer auf Zeit“, Wirtschaftsflüchtlinge, und brachten nicht nur Geld mit nach Hause, sondern oft auch eine auf ihren globalen Touren gewonnene weltoffene und liberale Lebenseinstellung und ein internationales Repertoire.

Musikantenhaus in Jettenbach

Bedingt durch neue Transportmittel ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts sind die Wandermusikanten bis nach Japan gewandert, um dort beispielsweise bei Zirkus Hagenbeck ein Engagement zu bedienen. Gerade in der Anfangszeit des Wandermusikantentums aber sind die Musiker vornehmlich in Europa, in Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz (geographisches Europa) unterwegs gewesen, da es durch die vorhandenen Transportmittel noch keine Möglichkeit einer saisonalen Überseefahrt gegeben hat. Von den musikalischen Eindrücken der bereisten Länder inspiriert, haben die Wandermusikanten auch andere bzw. neue Musikstile aufgenommen – sozusagen eine frühe Form von musikalischer Globalisierung durch Repertoireerweiterung und Instrumententransfer.

Zirkus Hagenbeck
Circus Althoff

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit verbundenen Militärdienst hat das Musikantentum einen ersten Einbruch erfahren. In der Nachkriegszeit wurde den Wandermusikanten durch die (aktive) deutsche Rolle im Krieg das Musizieren im Ausland größtenteils verwehrt, sodass sich die hauptsächliche Aktivität innerhalb Deutschlands und in den Niederlanden abspielte. Die sozioökonomische Rolle der Frau war nicht ganz zeittypisch. Die alleinerziehende Mutter (auf Zeit) war während der Abwesenheit des Ehemannes Familienoberhaupt und Wirtschafterin. Spätestens nach der Gleichschaltung im Dritten Reich ist die ursprüngliche Wandermusikantenbewegung fast gänzlich verschwunden. Die ausbleibende Wiederbelebung der ursprünglichen Wandermusikantenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch auf das Aufkommen neuer Medien zurückzuführen. Es erfolgte eine Verschiebung der Tradition vom professionellen Gelderwerb hin in den Freizeitalltag. So nimmt das Musizieren auch heute noch einen überproportionalen Stellenwert im alltäglichen Leben der regionalen Bevölkerung in der Westpfalz ein. Dadurch hat diese historische Tradition ein enormes Identifikationspotenzial in der Gegenwart.

Der Migrationsaspekt und Integrations- bzw. Toleranzgedanke spielt auch heute noch in der Kulturarbeit und Wissensvermittlung eine bedeutende Rolle. Die historische integrative Arbeit zeigt sich z. B. in der Zusammensetzung der Musikanten, die meist aus mehreren Orten stammten, und in Übersee bei unterschiedlichen namhaften Zirkussen, Kurbädern oder Privatiers unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten und Erfordernisse ihr Auskommen fanden. Die Kulturform war folglich in vielfältiger Hinsicht durch ihre Offenheit gekennzeichnet.
In den 50er Jahren lebte das Wandermusikantentum in der Gemeinde Mackenbach kurzzeitig wieder auf und ist auch heute noch durch eine hohe Musikalität und einer zahlenmäßigen Dichte an Musikvereinen in den Musikantendörfern geprägt. Die Idee des Wandermusikantentums bietet auch für die Gegenwart noch die Chance demokratiefeindlichen Bewegungen entgegenzuwirken. Musik ist etwas wundervolles und verbindendes – und kennt keine Sprache. Daher steht die Kulturform allen offen. Insbesondere mit Blick auf die 50.000 US-AmerikanerInnen und NATO-Streitkräfte in der Region ist Musik eine Möglichkeit des internationalen und interkulturellen Brückenschlags. Der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund ohne Streitkräfte liegt in der Westpfalz bei ca. 18%. Durch Musikvereine, Chöre und InstrumentalmusikerInnen werden Menschen unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Sexualität, Alter und politischer Haltung adressiert. Die Kulturform lebt an der Stelle von einem inklusiven Ansatz, da es in allen Kulturen Musik gibt. Durch die Verknüpfung mit dem historisch-sozioökonomischen Aspekt bestehen viele Anschlussstellen für Kulturschaffende aus anderen Bereichen.

Auch außerhalb der praktizierenden Gemeinschaften, Gruppen, Vereine und Einzelpersonen wirkt das Wandermusikantentum auf individueller und institutioneller Ebene als identitätsstiftendes, integratives Moment. Kindertagesstätten bieten über Fördervereine musikalische Frühförderung für alle Kinder der Einrichtungen an, öffentliche Veranstaltungen werden an die historische Tradition angebunden und wirken auf ein breites Publikum, das nicht zwingend selbst Träger der Kulturform ist. In Zusammenhang mit der bundesweit stattfindenden Interkulturellen Woche fand z. B. 2021 im Kreis Kusel ein niedrigschwellig organisierter Workshop unter dem Motto „Music makes the World go round – Musik aus anderen Ländern“ statt, der aus dem „die“-Gefühl ein „wir-Gefühl“ erreichen wollte. Ähnlich bedingt hat sich die Flüchtlingsband Shaian im Kreis Kaiserslautern gegründet, die durch Workshopangebote immer wieder auch bisher „musikalisch unterrepräsentierte“ Gruppen involviert. Durch niedrigschwellige Musikangebote und Workshops werden soziale Barrieren abgebaut, so dass alle sozialen Schichten in Form von (in-)formeller Bildung teilnehmen können. Ergänzt wird die Minimierung sozialer und ökonomischer Hindernisse beispielsweise durch Angebote wie den Instrumentenflohmarkt, der auf die Initiative von lokalen Akteuren zurückgeht. Dort wurden zuvor gespendete Instrumente für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sodass der Erwerb eines Instrumentes in diesem Rahmen für jeden möglich war. Diese Formate ermöglichen den Zugang für alle Interessierten – und stehen damit ganz in der Tradition der Wandermusikanten. Die Wandermusikanten haben weiterhin Repertoire der Hochkultur z.B. der Wiener Klassik, das üblicherweise nur einem elitären Kreis zugänglich war, durch ihre Arrangements „demokratisiert“ und einer breiten, interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zahlreiche weitere Veranstaltungen wie Aufführungen des Westpfälzischen Sinfonieorchesters sind Beispiele von Aktivitäten in Anlehnung an die Tradition des Wandermusikantentums.

Mit neuen Formaten wie einem Escape Room oder Dorf-Residenzen soll die Kulturform auch zukunftsfähig und durch kreative Inhalte auch einer jüngeren Generation zugänglich gemacht werden. Diese Formate stellen unter anderem eine frühe Förderung der Auseinandersetzung mit der Kulturform in der Region sicher. Sie generieren ein zunehmendes „Wir-Gefühl“ und haben das Potenzial über die bereits bestehenden Initiativen hinaus das identitätsstiftende Merkmal der Musikantenlandtradition für die Menschen dieser Region zu verstärken.

Kinderzirkus

Graffiti-Workshop

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